Textauszug "Die Keksdose"
Die Keksdose
Roman, Magie-Verlag, 199 Seiten, ISBN 3-936583-03-X 
 
Roswitha hatte noch nie ein Klassenzimmer auf diese Art und Weise betreten, aber sie genoß es mit einem 
unvergleichlichen Gefühl seltener Genugtuung, als die Klassenzimmergeräusche beim Öffnen der Türe augen-
blicklich verstummten.
Einen Moment lang war sie irritiert, als die Lehrerin ein deutliches "Guten Morgen!",sagte und die vor ihnen
stehende Klasse im Chor "Guten Morgen, Miss Maunders!" antwortete. Ach ja, schließlich war es der Deutsch-
Unterricht. Dennoch wirkten die deutschen Worte an diesem Ort irgendwie merkwürdig.   
"Wie versprochen, habe ich euch heute Roswitha mitgebracht. Sie kommt aus Deutschland und ist zwölf Jahre
alt. Wir wollen die Gelegenheit wahrnehmen und uns in deutscher Konversation üben. - Ja, Susan? Wolltest 
du etwas sagen?" "Miss Maunders, there is a seat next to mine for Roswitha." "Would you like to say it in 
German, please? - O sorry, sage es in deutsch, bitte!""...da ist ...mein Platz für Roswitha." "Neben mir ist ein
Platz frei für Roswitha, bzw. ich biete Roswitha den Platz neben mir an." Korrigierte die Lehrerin und fuhr 
fort: "...wir wollen es aber heute so machen, daß wir die Tische in einem Kreis gruppieren. Stellt bitte die 
Tische zusammen!"
Aufgeregtes Tische- und Stühlerücken mit lebhafter Unterhaltung. "Leise bitte!" muß Miss Maunders mahnen. 
Endlich sitzen alle und Roswitha bekommt den Stuhl direkt neben der Lehrerin. Damit fühlt sie sich sicherer.
Aber ihre Scheu vor der fremden Klasse erweist sich als unbegründet. Alle wollen mit ihr reden. Ganz allein
sie steht im Mittelpunkt. Ihre Bedeutung wird nur noch überragt von  Miss Maunders, die die Fragen steuert,
verbessert, Hilfestellung leistet. Wenn die daheim sie jetzt sehen könnten! Die Freundinnen, oder besser noch
die Feindinnen. Ulrike etwa, diese eingebildete Ziege, die immer so angibt! Roswitha wächst mit jeder Frage,
die man ihr stellt, etwa welche Fremdsprachen sie in der Schule lerne. Nein, Französisch nicht, aber sie hat 
schon drei Jahre Russisch-Unterricht. Bereitwillig sagt sie auf Russisch: "Guten Tag! Wie geht es Ihnen? 
Zeigen Sie mir bitte den Weg zum Roten Platz. Da kommt die Straßenbahn. Eins, zwei, drei, vier, fünf, 
sechs, sieben..." Die Klasse ist beeindruckt. Roswitha würde gerne weiterzählen, denn das kann sie. Aber 
Miss Maunders will, daß die Mädchen noch andere Fragen stellen. Sie fragen nach dem Englisch-Unterricht.
Ja, sie hat zwei Stunden Englisch wöchentlich, freiwillig. Und Roswitha wartet gar nicht erst auf die Auffor-
derung und legt gleich los mit einer Kostprobe, wobei sie die Zeilen herunterhaspelt fast ohne Atem zu holen: 

Simple Simon met a pieman
Going to the Fair.
Said Simple Simon to the pieman:
Let me taste your ware.
Said the pieman to Simple Simon:
Show me first your penny!
Said Simple Simon to the pieman:
Indeed, I haven't any!

Man hat sie nicht unterbrochen. Erst am Schluß lachen alle freundlich, die einen, weil sie den Vers kennen, 
die anderen, weil sie ihn nicht kennen und über den Inhalt lachen müssen. Aber alle haben verstanden. Die 
echten Engländer verstehen ihr Englisch! Ihr Englisch ist so, daß sie verstanden wird! Sie ist glücklich. Alle 
Unsicherheit ist verflogen. Roswitha strahlt, ihre Augen tanzen und die Affenschaukeln fliegen lebhaft um 
ihren Kopf, wenn sie sich hierhin und dorthin wendet. Wenn doch die Stunde nie zu Ende ginge! Doch da 
klingelt es schon. "Oh bitte, Miss Maunders, darf ich noch ein bißchen in der Klasse bleiben?" Roswitha be-
merkt, daß die Lehrerin zögert. "Oh bitte! Ja? - Bitte, bitte, bitte!" Ihr ganzer kleiner Körper bebt und ihre 
Augen suchen Maureens Blick in aller Dringlichkeit. Dieses Kind kann mit einer Hartnäckigkeit bitten... Sie 
will es eigentlich nicht, aber sie gibt nach. "Das muß ich ihr abgewöhnen", mit diesem Gedanken, verläßt sie
die Klasse. Roswitha ist sofort umringt von den Mädchen, die sie mit neugierigen, auch bewundernden Blik-
ken anschauen. Die Nachgiebigkeit ihrer Lehrerin, die sie so nicht kennen, ist nicht unbemerkt geblieben. 
Wenn das deutsche Mädchen das kann... Alle reden auf Roswitha ein, wollen alles wissen. Mit dem Abgang 
der Deutschlehrerin ist auch deren Fachsprache augenblicklich verschwunden, nicht aber das Interesse an ihr,
die die Schülerinnen nur sachlich und unnahbar kennen.
"What is she like at home?"
"Do you really stay with her?"
"Have you got your own room in the house?"
Roswitha sieht sich getragen von ganz ungewohnter Zuwendung und Neugier. Im Bewußtsein ihrer Wichtig-
keit versteht sie wie durch Zauberei und wird verstanden. Und dieses herrliche Gefühl steigert ihre Euphorie.
Ihre Wangen bekommen rote Flecken, sie lacht und fühlt sich glücklich und dazugehörig. Sie ist eine Prinzes-
sin im Kreise ihrer Hofdamen. In ihrer kleinen Hand liegt es, die strengsten Geheimnisse ihrer hochwohlge-
borenen Verwandten auszuplaudern. Das tut sie natürlich nicht. Aber sie könnte es. Der um sie versammelte 
Hofstaat würde ihr alles glauben. Auch die dicksten Lügen. Ha, das klingt anders als der Zuruf der kleinen 
Putzfrauentochter in London: "You are an enemy child. Just a bloody enemy child!"